Buchprojekt TOTALREFLEXION

Von der Arbeit an und mit mir

Alles auf Anfang

Zu meinem Projekt sei einleitend gesagt, dass die darin verarbeiteten Bilder zuerst das Licht der Welt erblickten. Die Idee, gerade diese Bilder als Buch zusammenzuführen, war eher eine Bauch- denn eine rationale Entscheidung.

Mein Buch „Totalreflexion“ besteht aus einer Fotoserie von 78 Bildern, die einen Raum von 96 Seiten einnehmen. Die Serie selbst bestand ursprünglich aus 179 Fotografien, aus denen ich ein stimmige Auswahl zur Gestaltung des Buches herausgelöst und wieder zueinander geführt habe. Der arbeitsintensivste Teil des gesamten Projektes war mit Sicherheit die Herstellung der Fotografien, die ich im Zeitraum von September 2019 bis März 2020 in mehreren Sitzungen zu verschiedenen Themenbereichen fotografiert habe.

Vom Inhalt zum Objekt

Formal handelt es sich um ein Soft-Cover-Buch im Hochformat 24 x 31 cm, welches zusätzlich mit einer Englischen Broschur aus einem gazeartigen, halb transparenten Material umhüllt ist. Der Buchblock selbst besteht aus einem 170 g Papier mit weichem Griff und ist fadengeheftet. Gedruckt wurde es im Offset-Verfahren, dessen samtige Oberfläche immer noch die meisten gängigen Druckverfahren in den Schatten stellt. Auch ist der charakteristische, angenehme Geruch von Offset-Druckfarben für mich ein Qualitätsmerkmal. „Bücher…sind auch dreidimensionale ästhetische Objekte, die gewisse physische, optische, haptische und gestalterische Kriterien erfüllen müssen.“ (Franziska Morlk/Miriam Waszelewski, Vom Blatt zum Blättern, verlag hermann schmidt 2016, S 21)
Das Format war ursprünglich meinem Lieblingsfotoband der Fotografin Imogen Cunningham entlehnt (2001 im Taschen Verlag erschienen, ISBN 3-8228-7182-6), welches die ideale Proportion und Größe aufweist, meinen Bildern den nötigen Raum zu geben, musste es aus produktionsbedingten Gründen aber etwas kleiner anlegen. „Wenn ich ein Projekt beginne und das Format nicht feststeht, suche ich Bücher des entsprechenden Typs heraus und wäge die Vor- und Nachteile der verschiedenen Größen und Proportionen ab.“ (Friedrich Forssman, Wie ich Bücher Gestalte/Ästhetik des Buches, Wallstein 2015, S 13: Das Format)
Manche Bilder entwickeln erst ab einer bestimmten Abbildungsgröße ihr volles Potenzial, Ihren Inhalt ganz zu offenbaren. Das breite Hochformat bietet die nötige „Weite“, einen Rhythmus zu etablieren, der sich durch die gesamte Abfolge der Bilder zieht, der aber nicht unbedingt dazu verleitet, das Buch linear anzusehen. Das native Fotoformat im Verhältnis 2 : 3 wurde bei der Platzierung der Bilder absichtlich aufgebrochen, um bestimmte Bildteile besser in den Fokus rücken zu können. Um eine gewisse „Ordnung“ in der Gestaltung zu schaffen, liegt jeder Doppelseite ein symmetrischer Raster zugrunde, in den sich die Bilder harmonisch einschmiegen.

Ein künstlerisches Fotobuch als Verbindungsstück zu „begreifbaren“ Emotionen

In einer Zeit, in der die Digitalisierung immer schneller voranschreitet, entsteht in vielen Menschen wieder vermehrt die Sehnsucht nach sinnlichen Wahrnehmungen. Weder unser biologischer Körper noch unser Geist weist die in der digitalen Welt so hochstilisierte perfekte Glattheit auf. Unser Körper befindet sich zu jeder Zeit im dreidimensionalen „analogen“ Raum, in dem wir Bedürfnisse verspüren, die in der virtuellen Realität keinen Platz finden.
Im Gegensatz zu allen mir bekannten digitalen Medien, kann ein gut gemachtes Buch alle Sinne zugleich ansprechen. Man nimmt es in die Hand, spürt das Gewicht, hört den Klang des Papieres beim Blättern, fühlt die Oberfläche und die Bewegungen des Papiers beim Blättern und manche Menschen nehmen sogar den Geruch des Papiers oder des Umschlagmaterials wahr.
Vergleicht man diese haptischen Erlebnisse mit z.B. einem Tablet, so fühlt sich das Wischen mit dem Finger über einen Touch-Screen immer gleich an, unabhängig vom Inhalt. Sein Gewicht verändert sich nicht durch das Abspeichern von mehr Seiten. Es bleibt auch starr und leblos in der Hand – lediglich die Wärme des Akkus lässt auf Aktivität schließen.

Auch die visuelle Wirkung von Farbe auf Papier kann durch verschiedene Oberflächen und Druckfarben beeinflusst werden. Und zwar, anders als bei Monitoren, stellen sich die Farben und Kontraste genau so dar, wie ich sie haben möchte. Wir alle kennen das Problem von nicht kalibrierten Bildschirmen, die bestenfalls wiedergeben, was die Grafikkarte hergibt – somit zeigt sich auch jedem Betrachter ungewollt ein anderes Bild.

In „Totalreflexion“ geht es um Sichtbarmachung menschlicher emotionaler Mehrschichtigkeit durch die Überlappung von Bildern: Bilder projiziert auf meine Haut, die als Leinwand dienend wiederum fotografiert Inhalte neu interpretiert; Bilder werden sowohl teilweise absorbiert und durch meine Körperform transformiert; als auch reflektiert, um wieder neue Bilder entstehen zu lassen, die nun im Buch strategisch platziert, eine mehrdimensionale Metapher ergeben. „Ein jedes Medium ist immer auch imstande, andere Medien in sich zu beherbergen, deren Potenziale teilweise aufzunehmen.“ (Walter Pamminger, Konzeptionelles Buchgestalten/Ästhetik des Buches, Wallstein 2018, S 18: Mediale Überlappungen)

Das Buch als Medium bietet vielfältige Möglichkeiten, um auch durch die Wahl der Materialien die Bildwirkung zu verstärken. Der Umschlag, eingehüllt von einer Art „Haut“ als Schutz des empfindlichen Inhalts, der auf hochwertigem Papier mit weichem Griff gedruckt ist; im Widerspruch zu den oft sehr harten, kompromisslosen Inhalten meiner Bilder. Derselbe Widerspruch findet sich im Verlauf des Buches wieder: dieses Oszillieren menschlicher Emotionen in einem erlebbaren Zyklus zusammengefasst.

Inhaltsorientierte, emotionale Fotografie als Ausgangspunkt

Ein berühmtes Zitat von Henri Cartier-Bresson drückt aus, was auch in der heutigen Fotografie ein wichtiger Aspekt der Arbeit als Fotograf ist:

„Das eine Auge des Fotografen schaut weit geöffnet durch den Sucher, das andere, das geschlossene, blickt in die eigene Seele.“

/ KEINE ANGST VOR EMOTIONEN

Die Herstellung meiner Fotografien war ein sehr langwieriger und emotional anstrengender Vorgang, der seinerseits ebenso alle meine Sinne beanspruchte und die Bilder so die emotionale Kraft entwickeln konnten, die am Ende auch den Betrachter erreicht. „Menschen fotografieren heißt ihnen Gewalt antun, indem man sie so sieht, wie sie selbst sich niemals sehen, indem man etwas von Ihnen von ihnen erfährt, was sie selbst nie erfahren…“ (Susan Sontag, Über Fotografie, Fischer Taschenbuchverlag 1980, S 20: Amerika im düstern Spiegel der Fotografie/Gertraud Baruch)

Die Auswahl der projizierten Bilder basierte im Wesentlichen auf besonderen Strukturen, Lichtverhältnissen und Farbwelten. Alle verwendeten Bilder stammen aus meinem eigenen Archiv, das über einen Zeitraum von über 10 Jahren gewachsen ist und aus einer Sammlung von künstlerischen Arbeiten über Naturfotografien bis zu Reiseimpressionen besteht – was die besondere Verbindung zwischen mir und den Inhalten der verwendeten Fotografien erklärt.

Für mich als berufene Fotografin ist jedes sorgsam gestaltete Bild ein kleiner Schatz, der wohl behütet – und mehrfach gesichert – in den digitalen Archiven auf seinen Einsatz wartet. „An sich sind Fotos zwar nur zweidimensionale Abbildungen, sie werden jedoch im Betrachten aufgeladen mit einer weiteren – emotionalen – Dimension.“ (Sven Barnow, Psychologie der Fotografie: Kopf oder Bauch?, dpunkt.verlag 2016, S 129)

Unter Berücksichtigung der technischen Komponente ist die Arbeit mit dem Selbstauslöser auch eine durchaus anspruchsvolle Arbeit. Sie erfordert viel Erfahrung und Geschick, um mich selbst und die zu projizierenden Bildern richtig zu positionieren – und nebenher auch den Schärfepunkt richtig zu legen.

Der Titel „Totalreflexion“ spricht durch die wunderbare Zweideutigkeit unterschiedliche Gedankengänge an. Zum Einem die Arbeit mit sich selbst – sich selbst reflektieren im psychologischen Zusammenhang „Um zu reflektieren, muss der Geist in seiner fortschreitenden Tätigkeit einen Augenblick still-stehen, das eben vorgestellte in eine Einheit fassen, und auf diese Weise, als Gegenstand sich selbst entgegenstellen.“ (Wilhelm von Humboldt, 1767-1835); sowie der rein physikalische Ansatz, der sich mit den Auswirkungen der Lichtbrechung im Sinne von Absorption und Reflexion beschäftigt:

„Die Totalreflexion ist ein Phänomen, das unter anderem im Zusammenhang mit sichtbarem Licht bekannt ist. Sie findet an der Grenzfläche zweier nicht absorbierender Medien mit verschieden großer Ausbreitungsgeschwindigkeit statt, wenn der Einfallswinkel einen bestimmten Wert, Grenzwinkel genannt, überschreitet. Das Licht tritt dann nicht mehr überwiegend in das zweite Medium ein, sondern wird nahezu vollständig reflektiert.

Die Vorstellung einer totalen, das heißt vollständigen Reflexion ist eine Idealisierung, weil auch der vollständig reflektierten Strahlung immer ein Teil durch Absorption verloren geht.

Übrigens ist die menschliche Haut in den obersten Hautschichten teilweise transparent, so dass optisch keine reflektierende Fläche, sondern eine reflektierende Schicht vorliegt.“
(Text auf der letzten Seite im Buch; verschiedene Quellen, die sich mit der den physikalischen Eigenschaften des Lichtes beschäftigen)

Einladung zum „Querblättern“

Im Zuge der Gestaltung des Buches habe ich bewusst die Entscheidung gefällt, nahezu vollständig auf Text zu verzichten, um die Bildwirkung nicht zu beeinflussen. „Reaktionen auf Fotos können ganz unterschiedlich ausfallen. Wir alle haben unsere eigenen Erinnerungen und verbinden diese mit den Bildern.“ (Sven Barnow, Psychologie der Fotografie: Kopf oder Bauch?, dpunkt.verlag, S 129)
Die Verwendung von Worten führt den Betrachter unweigerlich in eine Richtung, Bilder zu interpretieren. Die Bilder selbst tun das jedoch auch sehr stark und bedürfen keiner Erklärung. Zwischen den Bildern steht viel Weißraum zur Verfügung, um die Bilder über ihren physisch begrenzenden Rand hinaus wirken zu lassen. Als Fotografin weiß ich um die Möglichkeiten des Beschnittes, dem Betrachter Raum für eigene Interpretationen anzubieten.

Auch habe ich absichtlich auf eine Paginierung der Seiten und auch auf eine Einteilung in Kapitel verzichtet – eine Nummer bzw. ein Kapitel teilt einer Seite einen bestimmten Platz im Buch zu, was meist zu linearem Blättern führt.
Mein Buch kann von hinten nach vorne oder von der Mitte aus durchgeblättert werden. Emotionen folgen keiner bestimmten Logik und wiederholen sich auch nicht in einer bestimmten Reihenfolge – sie entstehen situativ. Deswegen bieten Lesebändchen die Möglichkeit, eine gerade in diesem Augenblick ansprechende Seite zu markieren, um nach Wunsch jederzeit zu ihr zurück zu finden.

Schlussendlich

…ist mein Buch zwar ein Erstlingswerk als Buchgestalterin, meine Fotografien jedoch sind Zeugen eines langen Entwicklungsprozesses als Fotografin und ebenso ein Zeugnis des Erfolgs für die Arbeit mit mir selbst.
Meine Arbeiten zusammengefasst in einem Buch zu sehen und anderen „begreifbar“ machen zu können, ist in jedem Fall ein weiterer wichtiger Schritt in meiner persönlichen Entwicklung und kann auch andere Menschen dazu ermutigen, selbstwirksam zu werden.

Verwendete Literatur

Bücher

Friedrich Forssman, Wie ich Bücher Gestalte/Ästhetik des Buches, Wallstein 2015,
ISBN 978-3-8353-1591-4

Walter Pamminger, Konzeptionelles Buchgestalten/Ästhetik des Buches, Wallstein 2018,
ISBN 978-3-8353-3314-7

Sven Barnow, Psychologie der Fotografie: Kopf oder Bauch?, dpunkt.verlag 2016,
ISBN 978-3-86490-270-3

Susan Sontag, Über Fotografie, Fischer Taschenbuchverlag 1980,
ISBN 978-596-23022-8

Franziska Morlk/Miriam Waszelewski, Vom Blatt zum Blättern, verlag hermann schmidt 2016, ISBN978-3-874-39-899-2

Hard Facts

_240 x 310 mm  _Seitenumfang: 96 Seiten  _ Softcover mit englischer Broschur  _ Fadenheftung  _Auflage: 100 Stück  _Schrift: Usual  _Fotografien: Heidemarie Pleschko  _Papier Kern: SAPPI RAW 170 g/m2  _Papier Cover: Offsetkarton 300 g/m2  _Druck: Offsetdruck  _Englische Broschur: Buchbindergaze


Copyright © 2023 Heidemarie Pleschko I Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung der Autorin ist unzulässig.